Experten-Inteview

Interview mit der Genetikerin Frau Prof. Dr. Siegrid Tinschert, die sich seit vielen Jahren mit Fragen der Diagnostik und mit der Ursachenforschung zum Proteus Syndrom beschäftigt

November 2010

1) Was die Ursachen betrifft, liest man widersprüchliche Angaben  (PTEN-Gen, somatische Mutation)? Was ist aus Ihrer Sicht der neueste  Stand in der Ursachenforschung?

Die Ursache des Proteus-Syndroms ist noch nicht bekannt. In der Tat ist es so, dass in der medizinischen Fachliteratur Patienten mit der Diagnose Proteus-Syndrom beschrieben wurden, bei denen Veränderungen (Mutationen) im Tumorsuppressor-Gen PTEN nachgewiesen werden konnten. Schaut man sich die Merkmalsausbildung bei diesen Patienten jedoch genauer an, dann ist festzustellen, dass die sog. diagnostischen Kriterien für das Proteus-Syndrom in keinem dieser Fälle wirklich erfüllt sind. Ich kenne keinen Patienten mit zweifelsfreiem Proteus-Syndrom, der eine Mutation im PTEN trägt.

Die Diagnosekriterien, die von einer internationalen Arbeitsgruppe entwickelt wurden, grenzen das Proteus-Syndrom als eigenständiges Krankheitsbild von anderen Erkrankungen, die auch mit einem regionalen bzw. asymmetrischen Großwuchs einhergehen können, ab. Welche Bedeutung einer richtigen Diagnosestellung zukommt, lässt sich z.B. daran ermessen, dass sich aus einer Diagnose wichtige Aussagen ableiten lassen zu Verlauf, Prognose, Therapie, Vorsorge oder auch Erblichkeit. Patienten mit PTEN-Mutationen sind an dem Cowden-Syndrom erkrankt und haben, im Unterschied zu Patienten mit dem Proteus-Syndrom, z.B. keinen ausgeprägten Extremitätengroßwuchs, jedoch ein hohes Risiko für bestimmte Tumore, vor allem für Brustkrebs, und es besteht die Möglichkeit, die Genveränderung an Nachkommen zu vererben. Was die Ursache betrifft, so darf als gesichert angesehen werden, dass dem Proteus-Syndrom ein Zellmosaik zugrunde liegt. Unter einem Mosaik im biologischen Sinn versteht man einen Organismus bestehend  aus mindestens zwei genetisch verschiedenen Zellpopulationen, die sich aus einer Zygote entwickelt haben.

2) Da die Abgrenzung zu anderen Formen des partiellen Großwuchses eher schwierig scheint – wurde die Krankheit bisher eher zu oft fälschlicherweise diagnostiziert, ist aber eigentlich seltener oder ist die Dunkelziffer erkrankter Menschen vermutlich höher?

Einige Krankheitsbilder mit regionalem Großwuchs wurden erst in der letzten Zeit definiert, so zum Beispiel das Hemihyperplasie-Lipomatose-Syndrom, das CLOVE-Syndrom oder das SOLAMEN-Syndrom. Letzteres tritt auf, wenn eine Mutation im PTEN-Gen auf einem der beiden Chromosomen Nr. 10 in allen Körperzellen vorliegt (verantwortlich für das Cowden-Syndrom) und sich bereits in der Embryogenese eine weitere PTEN-Mutation, diesmal das andere Chromosom 10 betreffend, ereignet hat und ein Zellklon mit zwei Mutationen auswächst. Auch hier handelt es sich um ein Mosaik, was die besondere Ähnlichkeit zum Proteus-Syndrom erklärt.

Früher wurde bei Vorliegen dieser Erkrankungen (oder auch noch anderer Formen des regionalen Großwuchses) meist die Diagnose Proteus-Syndrom gestellt. Ein Expertenteam hat die Berichte zum Proteus-Syndrom in der medizinischen Fachliteratur geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass nach heutigem Kenntnisstand die Diagnose nur in der Hälfte der Fälle zutreffend ist (Turner und Mitarbeiter: Reassessment of the Proteus Syndrome Literature: Application of Diagnostic Criteria to Published Cases. American Journal of Medical Genetics 130A:111–122, 2004)

3) Welche Erfolge konnten bisher mit chirurgischen Eingriffen erzielt werden? Tritt das Wachstum nach einer Operation erneut auf?

Bisher waren die Maßnahmen zur Behandlung des regionalen Großwuchses chirurgisch ausgerichtet: z.B. operative Entfernung von Fettgewebe, Teilamputationen von Gliedmaßen oder auch gezielte Regulierung des knöchernen Längenwachstums durch operative Eingriffe im Bereich der Wachstumsfugen. Ein erneutes Wachstum nach Operation ist leider nicht selten.

4) Gibt es in der Therapie spezielle Medikamente, die das Wachstum erfolgreich stoppen oder zumindest verlangsamen konnten? Wie beurteilen Sie den Wirkstoff Rapamycin?

Im Jahr 2008 veröffentlichte eine australische Arbeitsgruppe einen Bericht über eine erfolgreiche Reduktion von Gewebevermehrungen bei einem Kind nach Gabe von Rapamycin. Bei dem Knaben war einerseits die Diagnose Proteus-Syndrom gestellt worden, aber andererseits war eine konstitutionelle Mutation (davon spricht man, wenn alle Zellen des Organismus die Mutation tragen) im PTEN-Gen nachgewiesen worden. Hier sind wir wieder bei dem oben angesprochenen Problem der Diagnosestellung angelangt. Rapamycin hemmt das Protein mTOR (mammalian Target of Rapamycin). Das mTOR-Protein spielt eine zentrale Rolle bei Wachstumsprozessen der Körperzellen. Damit dieses im Gleichgewicht bleibt, gibt es natürliche Inhibitoren von mTOR. Ein solcher Inhibitor ist das Enzym PTEN. Mutationen im PTEN-Gen führen zu einer Aktivierung von mTOR und damit einem unkontrollierten Zellwachstum. Das erklärt die Wirkung von Rapamycin als Wachstumshemmer bei Patienten mit PTEN-Mutationen. Ob dieses Medikament, das durch Komplexbildung mit dem Protein mTOR (mammalian Target of Rapamycin) eine Reihe von Signaltransduktionswegen in den Zellen hemmt, dadurch Immunantworten unterdrückt und stark zellabtötend wirkt, auch bei Formen des regionalen Großwuchses, die nicht durch PTEN-Mutationen hervorgerufen werden (wie das Proteus-Syndrom), wird sich zeigen.

5) Werden Patienten, die starke Fehlbildungen haben, auch psychologisch betreut?

Diese Frage lässt sich nicht global beantworten. Sicher gibt es Umstände, warum Menschen mit Fehlbildungen sich in psychologische Betreuung begeben. Ob dies geschieht, ist von mehreren Faktoren abhängig. Vor allem spielt die eigene Persönlichkeit eine wichtige Rolle, aber auch die Art, wie das Umfeld reagiert, ist von Bedeutung. Einige Kinder mit asymmetrischem Großwuchs haben es geschafft, sehr offensiv mit ihrem „Anderssein“ umzugehen. Das Wissen, dass es Menschen mit ähnlichen Problemen gibt, scheint mir sehr wichtig für viele dieser Patienten zu sein. Dies wird durch zum Beispiel durch Kontakte innerhalb der Selbsthilfegruppe „Proteus-Syndrom und ähnliche asymmetrische Großwuchssyndrome“ ermöglicht.

6)  Die Fälle unterscheiden sich sehr in Ausprägung und Schweregrad. Gibt es Zahlen zur prozentualen Verteilung? Welche Körperteile sind am meisten betroffen?

Das Proteus-Syndrom ist, wie der Name sagt, sehr vielgestaltig, so dass jeder Patient seine eigene spezifische Ausprägung hat. Die bereits oben genannte amerikanische Arbeitsgruppe hat 2004 anhand von 97 Fällen, die bis dahin in der Literatur beschrieben waren, die Häufigkeiten der Beteiligung einzelner Körperteile bzw. Organsysteme geprüft: Ein asymmetrischer und gleichzeitig disproportionierter Großwuchs lag mit 93 % an erster Stelle, gefolgt von verstärkter Knochenbildung und knöchernen Ablagerungen in Weichteilstrukturen mit 74% sowie den Epidermalnävi und den pathognomonischen Bindegewebsnävi mit je 73 % (lokalisierte Fehlbildungen der Haut mit Vermehrung bestimmter Zellen oder Gewebe).

7)  Steht der mythologische Name und die oft im Zusammenhang zitierte tragische Lebensgeschichte von „Elefantenmensch“  John Merrick einer nüchternen, aufgeklärten Wahrnehmung der Krankheit in der Öffentlichkeit im Weg?

Es wird darüber spekuliert, dass Joseph Merrick eine extreme Variante des Proteus-Syndroms gehabt haben soll, eine frühere Diagnose war Neurofibromatose. Ich sehe dann ein Problem, wenn J.M. als der typische Repräsentant des Proteus-Syndroms hingestellt wird. Das Proteus-Syndrom ist ein sehr vielgestaltiges Krankheitsbild mit zahlreichen Spielarten. Können Sie sich die Reaktion von Eltern vorstellen, denen die Diagnose Proteus-Syndrom mitgeteilt wird und die dann z.B. in Wikipedia schauen?


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